Die Livekommunikationswirtschaft ist besessen vom angeblichen Zwang zur digitalen Transformation. Dabei gibt es viel wichtigere Themen für das kommende 2022.
by Urs Seiler | 10. Januar 2022
Neues Jahr 2022 – neue Livekommunikation
Die Livekommunikationswirtschaft reibt sich während der Covid-Ära in einem Abnützungskampf auf, der nicht zu gewinnen ist.
Messen und Events müssen digital transformieren, heißt es, dabei hat der Herbst 2021 eines klar gemacht:
Die Wirtschaft braucht wieder Messen und Events – und sie will wieder Live Begegnungen nutzen, weil diese nicht transformierbar sind. Die Covid-Ära hat das eindrücklich bestätigt. Ohne Messen und Events bleibt die Wirtschaft stehen.
Die AUMA-Studie «Messe: analoge Intelligenz für die Zukunft» sagt dazu: «Das (die Digitalisierung der Marketing- und Vertriebsaktivitäten) bedeutet auch, dass persönliche Interaktion weiter verknappt wird, so dass die Nachfrage nach wertigem persönlichen Austausch steigt, i.e. wertvoller wird.»
Was Messen und Events besser machen müssen, ist mehr Reichweite herstellen für Ihre Aussteller- und BesucherInnenkunden. Der Weg dahin liegt natürlich in der Digitalität und der Königsweg in sozialen Netzwerken. Reichweite ist eines der Themen, das die Livekommunikationswirtschaft besser machen muss, nicht Digitalität. Es lohnt sich, die zwei Begriffe auseinander zu halten.
Der falsche Mythos der Notwendigkeit digitaler Transformation beruht auf dem Missverständnis, persönliche Begegnungen seien digital substituierbar und dass Digitalität das zu leisten vermöge. Aber manchmal lohnt sich auch ein kritisches Hinterfragen der aktuellen Situation anstatt ein blindes Losrennen.
Prof Holger Rust (smartville.digital wird im 2022 acht Dossiers von ihm zur Transformation in der Livekommunikationswirtschaft veröffentlichen) sagt im smartville.digital-Interview: «Das Ziel (der Anbieter digitaler Dienstleistungen) scheint, die analogen Geschäfte nach und nach in die Hände zu kriegen.» Aber die Pandemie hat unter anderem gerade gezeigt, dass Menschen erschöpft sind vom dauernden psychologischen Druck der angeblich notwendigen digitalen Transformation. Digitale Transformation in der Livekommunikationswirtschaft ist, wenn schon, ein Prozess, der viele Jahre dauern wird und heute noch gar nicht absehbar ist.
Schließlich bleibt nicht zu unterschätzen, dass die Live Kommunikationswirtschaft gar kein Interesse daran haben kann, ihr bisheriges Geschäftsmodell zu unterwandern. Sie sollte das auch nicht tun. Düsseldorfs Messechef Wolfram Diener sagte dazu im Handelsblatt im Januar 2021: «Digitale Messen spielen nur einen Teil der Erlöse von Präsenzmessen ein.».
Endlich wieder live!
97 Prozent der Unternehmen wollen weiterhin an Messen teilnehmen. Zu diesem Resultat kam die «Customer Care Campaign» der Messe Frankfurt im 2021, an der sich 59'000 (!) Firmen beteiligt hatten.
Horst Penzkofer zitiert in seinem Aufsatz zur Messebranche eine ifo Konjunkturumfrage: «Von den ausstellenden Industrieunternehmen gaben 31% an, dass virtuelle Messen für sie keine Rolle spielen, und weitere 54% sehen virtuelle Veranstaltungen nur als Ergänzung zu Präsenzmessen. Damit setzen im weiteren Sinn 85% der Aussteller weiterhin auf physische Messen. (Bild oben: Die Publikumsmesse Olma in St. Gallen 2021).
Die wirklichen Herausforderungen in Livekommunikation
Das Gute ist bekanntlich der Feind des Besseren. Jedes Business muss sich ständig weiter entwickeln auch die Livekommunikationswirtschaft. Aber nicht in die falsche Richtung. Die folgenden fünf Entwicklungen werden die Live Kommunikationswirtschaft im 2022 prägen:
Kundenrückgewinnung: UFIs Direktor Kai Hattendorf sagt in seinem Blog zu den fünf Messetrends im 2022): «In dieser "Zwischenzeit" (Anmerkung: bis die Pandemie wieder in den Griff bekommen ist) ist die Reisetätigkeit nach wie vor rückläufig, und es können immer weniger Menschen eine Messe besuchen. Gleichzeitig ist der Drang, auf die Messe zurückzukehren, spürbar. In dem Maße, wie die Komplexität der Pandemie abnimmt, werden wir sehen, wie schnell und in welchem Umfang wir Kunden aus der Zeit vor der Pandemie wieder willkommen heißen können und inwieweit weniger und ältere Besucher die Norm werden.»
Allein die deutsche Messewirtschaft hat im 2020 über 40 Milliarden Euro an Umsätzen verloren. Die künftige Aufgabe der Messewirtschaft besteht in den nächsten Jahren darin, ihre durch die Pandemie verunsicherten Kunden zurückzugewinnen. Das ist eine viel wichtigere Aufgabe als jene der digitalen Transformation.
Erneuerung der Infrastruktur: Der renommierte Messeexperte Jochen Witt sagt im smartville.digital-Interview: «Wachstum in den europäischen Messemärkten sehen wir nicht. eine Reihe von Messegeländen in Europa sind überdimensioniert und entsprechen nicht mehr modernen Marktanforderungen. Wir prognostizieren eine Tendenz zur Verkleinerung von Ausstellerständen und einen stärkeren Fokus auf Geländequalität zulasten der Geländegrösse.»
Umweltschutz: Noch vor einer allfälligen digitalen Transformation müssen Messen und Events zuerst umweltfreundlicher werden. Die UFI, weltweiter Verband der Messewirtschaft, hat im Herbst 2021 ein industrieweites Versprechen abgegeben, bis im Jahr 2050 Messen als «Net Zero Carbon Events», also als Anlässe mit Null Kohlenstoffverbrauch auszutragen.
Jürgen May, Inhaber von 2bdifferent, der renommiertesten Agentur in Live Kommunikation in Deutschland, die sich mit der nachhaltigen Zukunft in Live Kommunikation befasst, macht in seinem Aufsatz klar, weshalb die UFI-Forderung nach umweltfreundlichen Events heute schon ein kategorischen Imperativ darstellt: «Vor allem Corona ist zu einem Katalysator für die Ausrichtung in eine nachhaltige Zukunft geworden. Nachhaltigkeit ist für die MICE- und Eventbranche nicht mehr nur optional. Denn die Frage lautet nicht mehr: «Wie viele Aufträge bekomme ich durch Nachhaltigkeit mehr?», sondern: «Wie lange bin ich noch im Wettbewerb?»
Datenmanagement: Kai Hattendorf prognostiziert, dass Plattformlösungen wie Messen ein starkes Geschäftsmodell bleiben werden. Aber es kann ergänzt werden in der Monetarisierung von Aussteller- und Besucherdaten. Hier wird gemäß Kai Hattendorf die Vernetzung dieser Community wichtiger. Er sagt:«Die Champions von morgen werden jene Unternehmen sein, die die beste Verbindung zwischen Branchenveranstaltungen vor Ort und Online-Communities, Inhalten und Dienstleistungen finden.»
Wettlauf um Talente: Kai Hattendorf beschreibt, wie und weshalb zahlreiche Angehörige der Live Kommunikationsbranche während der Covid-Ära die Branche verlassen haben zugunsten stabileren Industrien mit höheren Gehältern und weniger Stress (Arbeitszeiten!). Er sagt dass die Messewirtschaft gut beraten ist, ein Narrativ zu schildern, weshalb eine Karriere in der Veranstaltungsbranche auch in Zukunft besonders attraktiv ist. smartville.digital bringt im ersten Quartal 2022 eine Übersicht über attraktive Arbeitgeber in der Live Kommunikationswirtschaft.
Live ist immer noch besser!
Horst Penzkofer folgert in seinem Aufsatz zur Messebranche: «Die Ergebnisse der ifo Konjunkturumfrage zeigen, dass das Format der Präsenzmesse auch künftig für die Aussteller von zentraler Bedeutung sein wird. Allerdings werden die Präsenzmessen wohl mehrheitlich um virtuelle Veranstaltungsformate ergänzt werden. So wird beispielsweise durch digitale Lösungen die Reichweite der Messe erhöht und eine 24-Stunden-Verfügbarkeit gewährleistet.»
Es geht nicht darum, Messen und Events zu ersetzen, sondern ihr Geschäftsmodell zu erweitern. «Ohne Erlebnisse gibt es keine wirtschaftliche Erholung» sagt Joe Pine im Interview mit der BOE-International Messe.
Trotz Pandemie kommt Kai Hattendorf zur Folgerung, dass die Überdisruption in der Messewirtschaft ausgeblieben ist. Wie richtig! Die Live Kommunikationswirtschaft muss sich jetzt zuerst konsolidieren, bevor sie sich transformieren kann.
Es gibt viel zu tun: packen wir’s an!
Wir wünschen allen Livekommunikationsangehörigen ein erfolgreiches neues Jahr 2022.
Take Outs
Auma-Studie: Analoge Intelligenz für die Zukunft.
«New Normal in der Veranstaltungswirtschaft», Gastbeitrag für Meet Germany von Jürgen May vom 7. Dezember.
Horst Penzkofer: Branchen im Fokus: Messebranche.
Joe Pine Interview: «Live ist immer noch besser.»
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