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«Der Begriff Leitmesse oder Weltleitmesse ist ein Symbol für die mangelhafte Auseinandersetzung mit sich selbst»

An der FAMA Messefachtagung vom 24. bis 25. Juni 2024 in der Messe Dornbirn hielt Colin Fernando, Partner bei BrandTrust, ein bemerkenswertes Referat zum Thema «Markenführung in der Messewirtschaft». smartville digital geht mit diesem Interview auf die wichtigsten Themen ein.

 



Colin Fernando in Kürze

«Das Coronaparadoxon besteht darin, es sich wieder zu gemütlich zu machen.

 

«Messeveranstalter stehen in einem ökologischen Zielkonflikt.

 

«Jetzt, wo Corona uns noch in den Knochen hängt, muss für die Generation Z betont werden, dass Messen sichere Arbeitsplätze bieten.

 

«Das Problem von Messen bestand aber darin, dass sie sich nur noch über das Thema Festival definiert hatten.

 

«Das Geschäftsmodell von Messen ist wie das Melken einer Kuh.

 

«Der Begriff Leitmesse oder Weltleitmesse ist für mich ein Symbol für die mangelhafte Auseinandersetzung mit sich selbst.

 

«Digitalisierung ist die Verstärkung des Kundennutzens einer Messe.

 




Colin Fernando, was bewegt Dich zur Messewirtschaft am meisten und lässt Dich nicht schlafen?

Ich sage das mit grösstem Respekt: Die Messewirtschaft hat es sich nach Corona zu leicht gemacht mit der digitalen Transformation. Ich spreche vom «Coronaparadoxon». Vor Corona herrschte die Meinung, die Messewirtschaft müsse sich nicht wirklich mit der digitalen Transformation auseinandersetzen. Das war getrieben von der Vorstellung, unersetzlich und auf alle Zeit relevant für die Anspruchsgruppen zu sein.

 

Post Corona haben wir gesehen, dass dem in gewisser Hinsicht auch so ist. Aber es geht um eine Haltung. Das Paradoxon besteht darin, es sich wieder zu gemütlich zu machen, zurückzulehnen, anstatt sich stets wieder von Neuem zu fragen, ob und weshalb man so relevant ist für Menschen.

 


Wie kam es zu den Mandaten von BrandTrust in der Messewirtschaft?

BrandTrust ist seit 21 Jahren im Markt tätig und arbeitet seit ungefähr zehn Jahren mit Messegesellschaften zusammen. Marke identifizierten viele Messegesellschaften bloss mit Logo und Design. Doch einige von ihnen erkannten, dass es wichtig ist, sich tatsächlich strategisch und nicht an der Oberfläche mit Markenführung zu beschäftigen.

 

Wir setzen uns auseinander mit Fragestellungen, wie man es schafft, Menschen für eine Messe zu begeistern und sie mit ihr zu verbinden, damit eine möglichst grosse Loyalität entsteht. Man erhält dann Antworten auf die Frage, warum ist unser Kunde hier und nicht woanders? Nach der Entwicklung der Strategie haben die Messegesellschaften dann gemerkt, dass sie Diskussionen mit ihren Ausstellern und Besucherinnen und Besuchern zufriedenstellend führen können, wenn sie Prinzipien, Erklärungen und Ursachen haben, warum sie bestimmte Entscheidungen treffen und Regelungen vornehmen.

 

Eine vom Online-Unternehmen Visable in Auftrag gegebene Studie im Jahr 2022 (siehe TAKE OUTS) spricht von einer «verheerenden CO2-Bilanz von internationalen Messen». Ist das selbst gesetzte Ziel der deutschen Messewirtschaft bis im 2040 klimaneutral zu sein realistisch? Welche Ernsthaftigkeit der Veranstalter siehst Du?

Aus meiner Sicht ist das Bild nach wie vor sehr gemischt. Ich sehe zwei und potenziell drei Lager.

 

Das erste Lager sind jene, die verkündete Ziele und deren Notwendigkeit als Pflichtakteure angehen.

 

Das zweite Lager sind jene, die sich durchaus ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, aus Überzeugung, etwas mehr als die Pflicht machen zu wollen.

 

Potenziell sehe ich auch ein drittes Lager in der Absicht, zum Vorreiter zu werden und beim Thema Nachhaltigkeit sogar voranzugehen.

 

Ein Messeveranstalter ist vor allem für die Aussteller und Besucherinnen und Besucher um sich herum (Scope 3) verantwortlich. Das eigene Nachhaltigkeitsgeschäft ist leichter zu managen.

 

Aber hier steht er in einem Zielkonflikt: Einerseits ist es sein Anliegen, die maximale Zahl an Ausstellern und Besucherinnen und Besucher an seinen Messeplatz zu bringen. Anderseits ist es seine Verantwortung, den Stakeholdern in ihren Umweltmassnahmen zu helfen. Ein Messeveranstalter muss sich ernsthaft mit diesem Zielkonflikt auseinandersetzen.

 


Wie attraktiv ist die Messewirtschaft als Arbeitgeber für die berühmte Millennial-Generation oder die Gen Z?

In unserem Trendmodell sprechen wir in Bezug auf die Generation Z auch von der «Make-it-Happen-Generation». Sie hat gelernt, Themenaktivitäten direkt umzusetzen und zu experimentieren. Eine Messegesellschaft muss jüngeren Generationen dieses «Spielfeld», etwa Kompetenzen in digitalem und neuem Marketing, übergeben und das auch zum Ausdruck bringen.

 

Millennials suchen, wie wir wissen, durchaus auch nach Sicherheit. Jetzt, wo Corona uns noch in den Knochen hängt, muss betont werden, dass Messen sichere Arbeitsplätze bieten – auch dank ihren resilienten Eigentümerstrukturen.

 

Gut ist zu wissen ist, dass die Millennials nach Aufmerksamheit suchen. Wenn ein Messeplatz deshalb eine One-to-One-Betreuung anstatt eine One-to-Many-Betreuung anbieten kann, kann er auch für jüngere Generationen sehr attraktiv sein.

 


In Deinem Referat auf der FAMA-Sommertagung in Dornbirn plädiertest Du, nicht jede Messe müsse wie das OMR-Festival in Hamburg oder wie das viel zitierte SXSW-Festival in Texas sein. Inwiefern hat sich die Mode «Festivalisierung» von Messen überholt?

Man muss erst einmal feststellen: Festivals haben Erfolg. Sie bewegen Massen, sind ein Anziehungspunkt und haben eine absolut berechtigte Position im Veranstaltungsgeschäft.

 

Das Problem von Messen bestand aber darin, dass sie sich nur noch über das Thema Festival definiert hatten und Gefahr liefen, ihren eigenen Charakter zu verlieren. Man hat sich zu sehr an anderen orientiert, anstatt den Blick auf seine eigenen Erfolgsmuster zu lenken. Um relevant zu bleiben, muss man sich seiner eigenen Erfolgsmuster bewusst werden.

 

Wie geht Brand Trust an die Analyse eines Messeveranstalters heran?

Der entscheidende Punkt ist, den Blick auf sich zu wenden. Das ist immer der erste Schritt. Unsere Grundüberzeugung ist; Marken wachsen von innen nach aussen. Der wichtigste erste Schritt ist deshalb, sich mit sich selber zu befassen: Wer ist man, woher kommt man?

 

Heute geht es nicht so sehr darum, das viel zitierte Alleinstellungsmerkmal (USP) zu finden. Marken (Messen!) haben einen klaren Ursprung, ein Erfolgsmuster, ihre ganz eigene DNA, daraus ist man erwachsen.

 

Der zweite Schritt besteht in der Beantwortung der Frage: was halten eigentlich unsere Anspruchsgruppe von uns?

 

Der dritte Schritt besteht darin, sich mit dem Wettbewerbsumfeld auseinanderzusetzen.

 

Du plädierst auch, dass die Messewirtschaft einen Perspektivenwechsel brauche. Ein Perspektivenwechsel wovon, von welchen falschen An- und Aussichten und warum?

Aus meiner Sicht müssen Messegesellschaften wegkommen von der Betrachtung, dass Marketing nur ein Kostenfaktor ist und hin zu einer fundamentalen Kommunikation über das, was Messen eigentlich ausmacht, gelangen. Damit hat man ein Instrument für die Beantwortung der wichtigsten Fragen.

 

Eine der ersten Fragen lautet: Wie können wir unsere Reputation so stärken, dass die wichtigsten Stakeholder, Politiker, Aussteller und Besucherinnen und Besucher zu uns kommen? Das gelingt nur durch die stetige Erhöhung der eigenen Reputation.

 

Damit entsteht ein «Flächenbrand»: wenn die wichtigsten Aussteller kommen, dann kommen auch die wichtigsten Besucherinnen und Besucher, dann sehr schnell auch die Vertreter der Politik. Wo das gelingt, hat man den Zweck des Marketings verändert.

 

Du hast auch gesagt: «Das Geschäftsmodell von Messen ist wie das Melken einer Kuh».

Wir haben viele Tiefeninterviews mit ausstellenden Unternehmen und Besucherinnen und Besuchern geführt. Was immer wieder herauskam waren hohe Preise und meist eine Ausbaufähigkeit der Infrastruktur. Das Interessante ist dabei, obwohl alle das Gleiche sagen, kommen sie trotzdem treu zu Messen, wie wir jetzt an den jüngsten Rekordzahlen sehen.

 

Aber das geht nur so lange gut, wie man in der Lange ist, den Gesamtnutzen hoch zu halten. In dem Moment, wo ein Wettbewerber aufholt oder dieser Gesamtnutzen nicht mehr so relevant ist, wird das Geschäftsgebaren zum Problem. Dann geht der Dominoeffekt in die falsche Richtung …

 

Genau das hat die Baselworld erlebt, der Gesamtnutzen und die unglaublich hohen Preise waren nicht mehr in Balance.

 

Wenn wir uns in Interviews vorstellen, bringen wir solche Themen auf den Tisch. Hohe Preise funktionieren nur, wenn man den Gesamtnutzen hoch halten kann.

 

Du bist in Dornbirn auch kritisch mit dem Begriff der sogenannten «Leitmesse» umgegangen, die insinuiert, dass der Betriff identisch mit «Messeplatz Deutschland» sei. Was ist daran falsch?

Der Begriff Leitmesse oder Weltleitmesse ist für mich ein Symbol für die mangelhafte Auseinandersetzung mit sich selbst. Der Messeplatz Deutschland hat sich das Etikett zwar verdient. Und es gilt, das zu kommunizieren und zu verteidigen. Es ist ganz wichtig, die Position Leitmesse und Weltleitmesse immer wieder auszudrücken. Aber häufig endet damit die Auseinandersetzung und es geht auf einmal nur noch darum, diese Leitfunktion zu kommunizieren.

 

Messeplätze müssen sich laufend mit den Ursachen ihres Erfolgs beschäftigen: Warum ist meine Messe zur Leitmesse geworden? Die Antworten liefern glaubwürdiges Kommunikationsmaterial.

 

Welche Digitalisierung braucht die Messewirtschaft?

Es geht in erster Linie darum, richtig zu erfassen was Digitalisierung eigentlich bedeutet.

 

Brand Trust hat vor über zehn Jahren untersucht und ermittelt, dass die erfolgreichen Unternehmen es immer wieder geschafft haben, mit Digitalität näher an den Kunden zu rücken.

 

Entscheidende Fragen sind: Was sind die spezifischen Erfolgsmuster meiner Messe und wie kann ich diese noch relevanter machen und den Nutzen für meine Anspruchsgruppen noch erhöhen? Antwort: Indem ich die Leistung für den Kunden verbessere und optimiere. Digitalisierung ist die Verstärkung des Kundennutzens meiner Messe.


Interview: Urs Seiler

 

TAKE OUTS



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